Von Volker Schumpelick, Karsten Junge, Uwe Klinge, Joachim Conze
In Deutsches Ärzteblatt 2006; 103(39): A2553-8
Ultima ratio
Als Folge der von den Autoren angegebenen Methode Literaturrecherche
fallen die Ausführungen zur Pathogenese der Narbenhernie
unsystematisch aus und werden somit den komplexen Abläufen der gestörten
Wundheilung kaum gerecht. Selbst wenn man dies so gelten ließe, rechtfertigt
sich hieraus keinesfalls die vorgenommene Ausgrenzung der Nahtverfahren zur
Therapie. Nur weil man die grundlegenden Vorgänge nicht besser kennt bzw. nicht
besser klassifizieren kann, wird
ein Therapieverfahren angepriesen, welches nicht die Prädikate modern,
physiologisch, anatomiegerecht verdient. Im Gegenteil: bei den Netzverfahren
handelt es sich aus physiologischer
und anatomischer Sicht um
ultima ratio. Diese ist zweifellos manchmal unumgänglich.
Auch die angebotene Literaturübersicht kann das von den
Autoren verbreitete Therapieregime
nicht rechtfertigen. Es fehlt
darin – wiederum bedingt
durch unzureichendes Wissen über
die Pathophysiologie – an eben dieser Systematik und an Vergleichbarkeit der
Studien. Und da gibt es noch den publication bias und das cui bono. Denn
irgendwer stellt die Netze her und will sie verkaufen.. Die Förderung von
Studien und des wissenschaftlichen Austausches zum Produkt sind elementare
Teile des Marketings.
Es wäre zuviel verlangt, im vorgegebenen Rahmen die
Problematik von Biomaterialien im Hinblick auf ihre Biokompatibilität
darzulegen. Der Hinweis darauf ist dennoch unabdingbar für die Diskussion : Bei
den Netzverfahren werden der Technik entliehene Fremdmaterialien in bewegte
Regionen des Bioorganismus eingebracht. Diese Materialien erneuern sich nicht
wie biologisches Gewebe, sondern sie altern. Durch Bewegung entstehen Reibung,
Scherung Biegung bzw. Abrieb und
Bruchstellen. Die Haltbarkeit ist mithin begrenzt. Nun, wie lange denn? Wird
ein Netz bei einer 45 jährigen Patientin implantiert, dann wird es im
Durchschnitt für 40 Jahre gebraucht.
Was lässt sich bei einer Nachbeobachtungszeit von 48 Monaten dazu
aussagen? Welches Schicksal ist dem Abrieb bestimmt? Das wissen wir schon
besser. Er vagabundiert durch den gesamten Organismus und wird in Filterorganen wie Lymphknoten,
Lunge, Leber, (Gehirn?)
gespeichert. Was ist daran physiologisch?
Es macht vielleicht nicht wirklich krank..
Nun gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen der Wundheilung ohne und mit
Fremdkörper: Ohne Fremdkörper findet die Wundheilung in der Resolution einen
Endpunkt. Das Ergebnis ist die reife Narbe. Mit Fremdkörper entsteht eine
chronisch granulierende Entzündung ohne Endpunkt. Hierin liegt möglicherweise
die eigentliche Funktion der alloplastischen Verfahren. Das Netz ist als Kraftaufnehmer von Beginn an
bedeutungslos. (Andere Interpretationen sind Fortsetzung des mechanistischen
Denkens aus den Ursprüngen der Zunft). Es füllt einen Gewebsdefekt. Es stellt
nicht wieder her. Deshalb ultima ratio und nicht Methode der Wahl.
Daraus folgt die umgekehrte Bewertung der Methoden. Die
Indikationen für Nahtverfahren sind sehr viel weiter zu stellen als von den Autoren empfohlen. Es
bedarf hierzu nur einer treffenderen Systematik bei der Beurteilung der
biologischen Gegebenheiten. Der hier ex cathedra verkündete Rückzug auf
die Netzverfahren bedeutet für die
Truppe vorschnelle Kapitulation vor den Phänomenen der Wundheilung und ruft in
der Konsequenz für die Vorhut eine
besondere Bedrohung auf den Plan, die Damen und Herren in den schwarzen Roben.
Wiesbaden, den 15.10. 2006
Dr. Johannes Reinmüller
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